[ Bücher für Kinder - Wir Kinder von früher - Rezension ]

Die Geschichte von Annie Zeitlos und ihrem Vater

Karl Heinz Mai nahm an die tausend Fotos im zerstörten Leipzig auf. Herbert Günther schrieb Erzählungen dazu. Das ergibt ein so schönes wie ungewöhnliches Kinderbuch.

Zwei Jungen sitzen vor einem Trümmergrundstück. Sie legen den Arm kameradschaftlich um die Schultern des anderen, sie schauen in die Kamera, feixend der eine, verlegen der andere. Die Welt, die hinter ihnen häuserblockweit zerbröselt ist, kümmer sie nicht groß. Und, so scheint es, schon gar nicht die Abwesenheit aller Erwachsenen. Was ist das für ein Foto? Wer sind die beiden Jungen, wann ist es wohl aufgenommen worden, was wurde aus ihnen in den Jahren seither? Die Bilder aus dem Nachlass des Leipziger Fotografen Karl Heinz Mai sind offen und verschlossen zugleich: Sowenig wir wissen von denen, die darauf zu sehen sind, so unklar die meisten Umstände dieser Nachkriegsaufnahmen sind, so sehr verführen sie gleichzeitig zu Fragen und Vermutungen. Und wessen Phantasie empfänglich für derlei ist, wird sich vielleicht Geschichten zu den einzelnen Bildern und Porträtierten ausdenken.

So ging es jedenfalls dem Autor Herbert Günther, der 1947 in Göttingen geboren wurde und daher ein ungefährer Generationsgenosse der fotografierten Kinder ist. Er hat zu insgesamt 136 der mehr als tausend Aufnahmen von Karl Heinz Mai, die Kinder im zerstörten Leipzig zeigen, kleine Texte oder Bildunterschriften verfasst, die zusammengenommen einen Kosmos ergeben, der fiktiv und gleichzeitig so wahr ist, wie Literatur nur sein kann.

Weil Herbert Günther offenbar aus eigenen Erlebnissen schöpft oder aus Berichten, weil er auf den Bildern sucht, findet und glücklich erfindet, wo das Gefundene nicht weiter reicht. Weil er kindlichen Trotz und Eigensinn (etwa in "Frieder mag nicht") mit demselben Respekt behandelt, den er auch den Geschehnissen der großen Welt zollt - der überstandene Krieg ist allgegenwärtig, das Fehlen der Erwachsenen auch. Und weil er den Zusammenhalt seiner Geschichten durch einen besonderen Erzählton befördert, der immer nah am Mündlichen ist, ohne je ins Nachlässige zu gleiten - es sind Geschichten, die man gern hört und ebenso gern vorliest.

Deshalb vor allem ist dieses Buch ein Kinderbuch. Es antwortet auf klassische Kinderfragen (und ruft sie mit seinen Bildern auch hervor), und es lädt ein zur Diskussion darüber, was Kindheit damals war und heute ist. Denn das ist das Wunder dieses Buches: Günther nähert sich den Bildern erzählend ohne einen einzigen falschen Ton. Selbst dort, wo der Boden glatt ist, weil Tragik ins Spiel kommt: wie in der Geschichte von "Annie Zeitlos" die ihren gelähmten Vater überallhin begleitet und dann, nach seinem Tod, gleichzeitig erstarrt und erlöst ist. ODer eben in "Brüder wie Freunde", der Geschichte von jenem Jungenpaar auf dem Leipziger Schuttberg, das der Erzähler um ihre Freiheit beneidet und um das er sich sorgt, wenn es draußen unwirtlich ist.

Der Fotograf Karl Heinz Mai, der im Krieg beide Beine verlor und schon 1964 mit vierundvierzig Jahren starb ist wenigstens im Westen noch zu entdecken. Dieses Buch bereitet ihm den Boden, erschöpft sich aber nicht entfernt darin. Und es lässt Raum für einen willkommenen zweiten Band.

Diese Rezension von Tilman Spreckelsen zu "Wir Kinder von früher" ist am 19. März 2011 in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) erschienen.


Flüsterware und Kohlenklau

Bilder und Geschichten aus einer Zeit, in der die Großeltern Kinder waren

Ein Mädchen und zwei Jungen Iächeln frisch-freundlich und selbstbewusst in die Kamera. Die Dreiergruppe wurde von Klett-Kinderbuch für das Titelbild der Messe-Neuerscheinung "Wir Kinder von früher" ausgewählt. "Bilder und Geschichten aus einer anderen Zeit", heißt das Buch im Untertitel. Es richtet sich an Kinder ab sieben Jahren und ist zum vorlesen geeignet meint der Verlag.

Es könnte aber auch zum Lieblingsbuch von Oma und Opa werden, Weil sie "in der anderen Zeit" nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Kinder waren, genau solche, die in dem Buch zu sehen sind. Die Fotos stammen von dem Leipziger Karl Heinz Mai 1920-1964), der als junger Soldat im Krieg beide Beine verlor und sich fortan in einem dreirädrigen "Selbstfahrer" - Rollstuhl fortbewegte. Mittels Kamera dokumentierte er seine Heimatstadt so, wie sie sich ihm nach 1945 darbot. Eine Stadt in Trümmern, in denen es aber lebte. Es war das ganz normale Nachkriegsleben mit Trümmerfrauen und mit Kindern, die auch in Ruinen spielten. Es gab sogar einen Trümmergarten, wie ein Foto zeigt, das zu den schönsten gehört, weil darauf so deutlich Hoffnung keimt. Mehr als 130 Aufnahmen aus den Jahren nach 1945 sind versammelt und durch fiktiven Text verbunden.

Dem Autor Herbert Günther, geboren 1947, ist es gelungen, den berührenden Kinderfotografien von Karl Heinz Mai einen heiter-einfühlsamen Text an die Seite zu geben. Diejenigen, die damals aufgewachsen sind. werden die erdachten Alltagsszenen bestätigen und durch eigene Geschichten ergänzen können. So manche Großeltern dürften sich an die Bilder aus Leipzig erinnern - vielleicht sich gar selbst darin entdecken. Beim Blättern und Lesen sollen eigene Erlebnisse wach und den Enkeln erzählt werden.

Herbert Günther beschreibt zum Beispiel ein Treffen auf dem verbotenen Schwarzmarkt, auf dem einer den anderen anflüsterte und sich anflüstern ließ. So wechselte Flüsterware wie Bohnenkaffee, Butter, Zucker, Zigaretten den Besitzer. Erzählt wird auch von Kohlenklau und Suche nach Brennholz, vom Baden in der Waschschüssel oder der Zinkwanne, von Handwagen, die praktisches Transportmittel und Spielzeug waren, vom Leben mit Hühnern, Gänsen, Ziegen.

Zu Herzen geht die Geschichte von Falco, der Trümmerfrauen mit Botengängen unterstützte. Eines Tages wurde er zum Glücksboten, weil er an der Wohnungstür von Frau Lubinski einen bärtigen Mann in Lumpen traf, der an die Tür klopfte und sagte: "Luise, mach auf, ich bin's, dein Otto." Falco ahnte, wer es sein könnte und fragte nach. Und tatsächlich. Es war Herr Lubinski, der aus dem Krieg heimgekehrt war. Falco flitzte so schnell er konnte zu den Trümmerfrauen, um die Nachricht zu überbringen.

Den Anstoß für das Lese-Foto-Familienbuch gab die Künstlerin Franziska Neubert, die bei Recherchen in der Fotothek Mai zufällig auf die Sammlung mit Kinderbildern aus der Nachkriegszeit gestoßen ist. Speziell im Neubau des Stadtgeschichtlichen Museum sind auch weitere Fotos von Karl Heinz Mai zu sehen. Wie durch eine Brücke sind plötzlich Archiv, Buch und Ausstellung miteinander verbunden. Und das könnte weitere Anstöße geben zum Wühlen in alten Familienfotoalben, die viel zu lange ein unberührtes Dasein führten.

Diese Rezension von Marianne H.-Stars erschien am 15. März 2011 in der LVZ (Leipziger Volkszeitung).


Wunderbare Entführung in die eigene Kindheit- ein Buch für alle Generationen

Das ist ein Buch, das alle Generationen im Haus miteinander betrachten und lesen (vorlesen) können. Wiederentdeckte Fotografien aus dem Archiv von Karl Heinz Mai (1920-1964), die unzählige Kinder zeigen, hat Herbert Günther zusammengestellt und mit sehr einfühlsamen Texten versehen.

Die Bilder zeigen die ersten Jahre nach dem Krieg bis etwa Mitte der fünfziger Jahre und sie haben mich selbst beim Betrachten in meine eigene Kindheit zurückversetzt. Stellenweise glaubte ich mich sogar selbst zu sehen, weil mein Vater genau die gleichen Motive fotografierte in dieser Zeit.

Der Alltag, die Freude und die Sorgen dieser Jahre werden durch dieses wunderbare Buch wieder lebendig gemacht. Die Geschichten, die der 1947 geborene Schriftsteller Herbert Günther aus seinem eigenen Leben zu den Bildern erzählt hat, umfassen und beschreiben einen kindlichen Kosmos, wie er in Ost und West gleichermaßen für diese Zeit typisch war.

Das Buch ist ein wunderbares Geschenk von Enkeln für ihre Großeltern, und auch umgekehrt, denn wenn sie sich zusammensetzen und die Bilder betrachten, werden ganz neue, eigene Geschichten erzählt werden. So wird deutsche Geschichte persönlich und berührend.

Das Buch hat eine Nominierung für den Deutschen Jugendbuchpreis verdient.

"amazon.de" - Rezension von Winfried Stanzick vom 30. März 2011.


"Die Traumwächter" und andere Geschichten

Haben Sie schon mal vom Post-Traumatic Stress Disorder or PTSD gehört? Das ist eine schwere psychische Erkrankung, die aus traumatischen Erlebnissen resultiert, also Krieg, Unglücken, Katastrophen, Verbrechen. Erst nach dem Vietnamkrieg ist diese Form einer Krankheit medizinisch ins Bewusstsein gerückt , wissenschaftlich untersucht und belegt worden, aber es gab sie natürlich schon vorher, denn Kriege, Verbrechen, Katastrophen sind keine Erfindungen des 20. Jahrhunderts. Wenn man die Fotos von Karl Heinz Mai in Herbert Günthers neuem Buch anschaut, will man nicht glauben, dass diese Kinder unter PTSD leiden könnten, so fröhlich, verschmitzt und offen schauen die meisten in die Kamera. Aber das mag ihre Art von Angstbe-wältigung sein, schließlich haben sie alle mehr oder weniger die Erfahrungen gemacht von Einschüchterungen und Hasspropaganda durch das Nazi-Regime, von nächtlichen Bombenangriffen und den damit verbundenen bangen Stunden des Ausharrens in Todesangst in den Bunkern, während ringsumher die Welt in Schutt und Asche versank. Das Erleben der Kämpfe Haus um Haus, das Heulen der Granaten, das Knattern der Maschinengewehrsalven, das Rasseln der abziehenden deutschen und der einrückenden alliierten Panzer, eventuell die Übergriffe der Besatzungssoldaten auf die Zivilbevölkerung liegt erst kurze Zeit zurück. Und danach kam die Not: vieles zerstört, leben in und zwischen Ruinen, Mangel an allem, Väter gefallen gefangen oder schwer verwundet, Angehörige verschollen. Wie konnte man da noch fröhlich sein? Und doch - es war möglich. Dieses Buch mit seinen ausdrucksstarken Fotos beweist es. Fröhlichkeit und Spiel als Trauer- und Stressbewältigung.

Karl Heinz Mai, der Fotograf dieser Bilder, hat bei seinem Tod etwa 25000 Fotos hinterlassen. Er mag damit seine PTSD, seine Depressionen und Angstpsychosen abgebaut haben. Zum Kriegsdienst einberufen, erlitt er 1941 eine schwere Verwun-dung, die zur Amputation beider Beine führte. Nach der Rückkehr nach Leipzig 1943 wurde sein Elternhaus, in dem auch er wohnte, bei einem Bombenangriff zerstört. Bis Kriegsende lebte er dann im Pfarrhaus in Niederwiesa in Sachsen. Nach Kriegsende kehrte er abermals nach Leipzig zurück und begann - zunächst ohne Auftrag - den Nachkriegsalltag in und um Leipzig in Fotos zu dokumentieren. Zur Fortbewegung diente ihm ein sogenannter "Selbstfahrer". Mai starb 1964.

Herbert Günther ist es gelungen, mit seinen eindrucksvollen und einfühlsamen Tex-ten, wie dem von der „Sammel-Sophie“, dem über "Die Traumwächter" oder über die "Flüsterware“, den Bildern Leben einzuhauchen, den Ängsten und Traumata der Kriegskinder (und damit aller vom Krieg und Katastrophen betroffenen Kinder in der Welt) eine Stimme zu geben, die Hoffnungen einer geschundenen Welt auf die Kin-der zu projizieren, und nach einer apokalyptischen Weltkatastrophe dem Bibelwort "Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe"(1.Kor. 13,13) eine Basis zu geben. Der Autor ging dabei einen besonderen Weg: er legte eine Bilderauswahl Kindern aus Groß Schneen und Reiffenhausen vor (siehe nachfolgenden Bericht) und bat sie, diese Bilder spontan zu kommentieren. Diese Gedanken der Kinder sind in die Texte mit eingeflossen und machen sie damit sehr authentisch. Ich wünsche diesem Buch viele Betrachter und Leser.

Diese Rezension von Klaus Magnus erschien in der Ausgabe 2/2011 des "Quintus" (Gemeindebriefs der ev.-luth. Kirchengemeinden im Pfarramt Friedland I)




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